
Es ist eine Zahl, die jeder Bremerin und jedem Bremer den Schlaf rauben könnte. „86 Prozent der Fläche des Landes Bremen liegen so tief, dass sie bei einem Extremhochwasser und Deichversagen versinken könnten“, sagt Dr. Michael Schirmer. Weil die Zahl für sich noch etwas theoretisch klingt, hat der 76-Jährige ein praktisches Beispiel parat. Als bei der Sturmflut am 9. November 2007 der Pegel der Weser mehr als fünf Meter über Normal stieg, „hätten jenseits der Altstadt bei manchen Häusern nur noch die Dächer aus dem Wasser geschaut.“ Wenn denn der Deich nicht wäre. Dass Schirmer dies unaufgeregt sagt, hat einen Hintergrund: „Keiner in der Stadt muss sich Sorgen machen“, betont er mit sonorer Stimme: „Nach menschlichem Ermessen halten die Deiche.“ Kaum jemand dürfte es besser wissen, als der frühere Hochschullehrer für Gewässerökologie der Universität Bremen. Als Deichhauptmann trägt er seit 16 Jahren die Verantwortung für den intakten Hochwasserschutz am rechten Weserufer und damit den größten Teil der Hansestadt.
Vor der Sturmflutsaison ein letztes Mal die Deiche kontrollieren
Der Deichhauptmann muss gut zu Fuß sein. Mit dem Herbst beginnt in Bremen die Zeit der so genannten Deichschauen. Vor der Sturmflutsaison kontrollieren die Fachleute ein letztes Mal den Deich auf mögliche Schäden. Insgesamt 98 Kilometer müssen Schirmer und sein Team absolvieren. Ein langer Marsch, aber auch ein interessanter: „Man kommt in Gegenden, die sonst kaum jemand betreten darf“, sagt Schirmer. Schließlich gehören nicht nur die öffentlich zugänglichen Gründeiche, sondern auch die gesamte Hochwasserschutzanlage im Hafen sowie beispielsweise auf dem Gelände der Stahlwerke Bremen zum Zuständigkeitsbereich. Doch Schirmer richtet nur gelegentlich den Blick in die Ferne; zumeist ist sein Blick gen Boden gesenkt, während er flott in sechs Abschnitten den Weg entlang der Weser von der südlichen bis zur nördlichen Stadtgrenze abschreitet. „Das wird genau protokolliert“, erläutert Schirmer. Sicher ist sicher.
Hochwasserschutz ist in Bremen eine Gemeinschaftsaufgabe
Deichhauptmann – das klingt militärisch, ist es aber längst nicht. Schirmer gibt keine Kommandos; bei Sturmfluten rennt er auch nicht rastlos nach dem Vorbild des Schimmelreiters über den Schutzwall. Er ist im Ehrenamt Vorsteher des „Bremischen Deichverbandes am rechten Weserufer“. Die tägliche Arbeit und den Einsatz bei einer Sturmflut leitet der Geschäftsführer. Auch auf der linken Weserseite gibt es einen solchen Verband. Angesichts seiner hohen Bedeutung ist der Hochwasserschutz für Bremen eine Gemeinschaftsaufgabe, die Deichverbände sind Körperschaften öffentlichen Rechts. Finanziert werden sie von den rund 90.000 Grundeigentümerinnen und -eigentümern in der Stadt, die derzeit 0,7 Promille des Grundsteuerbemessungsbetrages für den Unterhalt der Deiche aufbringen. Rund vier Millionen Euro kommen so jährlich zusammen. „Offensichtlich wissen die Bremerinnen und Bremer, dass dieses Geld gut angelegt ist“, meint Schirmer, „es hat sich schon lange niemand mehr über diese Abgabe beklagt.“ Schon vor langer Zeit hat der Bremer Senat den Deichunterhalt auch in Bremen-Nord und das Lesumsperrwerk dem Verband übertragen: „Nur die Investitionen in den Ausbau des Hochwasserschutzes werden vom Land und vom Bund bezahlt“, erläutert Schirmer.
